Aus diesem vorzüglichen Buch von Petr Skrabanek und James McCormick - beide selbst Ärzte - habe ich ein paar Zeilen abgetippt:
"Sprichst du mit Gott, dann betest du; spricht Gott mit dir, dann giltst du als schizophren."
"Psychische Erkrankungen werden meist auf der Grundlage ungewöhnlicher, inakzeptabler oder "abweichender" Verhaltensmuster diagnostiziert.
Ungewöhnliche Traurigkeit heisst Depression, ungewöhnliche Besorgtheit Angstneurose, ungewöhnliche sexuelle Betätigung Perversion, ....
Im gewissen Sinne ist die Psychiatrie die anerkannte Methode zur Kontrolle abweichenden Verhaltens.
"Nicht immer ist klar, ob unerwünschte Verhaltensweisen vorsätzlich (verdorben) oder unwillkürlich (verrückt) sind. Bisweilen erscheint die Entscheidung darüber, ob ein Mensch ins Krankenhaus oder ins Gefängnis eingesperrt wird, weitgehend zufällig. Tatsächlich gibt es viele unglückliche Menschen, die beides am eigenen Leib erfahren haben."
In einem Leitartikel im Lancet 1976 wurde die Frage "Ist Trauer eine Erkrankung?" erörtert und folgender Schluss gezogen:
"... der wichtigste Grund, die Trauer als eine Erkrankung zu betrachten, besteht darin, dass sie dadurch zu einem legitimen Gegenstand medizinisch-wissenschaftlicher Untersuchungen würde ...
"Jemand beschrieb im Jahre 1943 psychopathologische Diagnosen als einen "modernen Ersatz für moralische Normen und Urteile".
Verhaltensweisen, denen keine Mehrheit frönt und die der Staat nicht befürwortet, werden für psychopathologisch erklärt. Die Übertragung von bürgerlich-moralischen Vorstellungen auf medizinische Diagnosen geschieht in den meisten Fällen versteckt, allerdings scheint bei genauerer Betrachtung die zugrunde liegende sittliche Haltung durch. Der Missbrauch der Psychiatrie in der Sowjetunion zur Gängelung der Dissidenten ist zwar berüchtigt, aber keineswegs ein Einzelfall."
"Die Einteilung von Erkrankungen ändert sich ständig. Neue Krankheiten werden entdeckt und alte fallen gelassen. Da Diagnosen nicht durch strenge Kriterien bestätigt werden müssen, läuft besonders die Psychiatrie Gefahr, Krankheiten zu erfinden.
Nur wenige wissen heute, was unter dem Begriff Drapetomanie zu verstehen war ("drapeta" = entlaufener Sklave). Diese Krankheit grassierte im letzten Jahrhundert unter schwarzen Sklaven im Süden der vereinigten Staaten. Das Hauptsymptom war "unwiderstehlicher Drang wegzulaufen". Dieses Verhalten wurde als völlig unvernünftig angesehen. "Vom Weissen zur Arbeit gezwungen, vollführt er die ihm zugeteilte Aufgabe ungestüm und unachtsam. Er tritt die Pflanzen, die er pflegen soll, mit Füssen oder schneidet sie mit seiner Hacke durch, er zerbricht seine Werkzeuge, und alles, was er anfasst, macht er kaputt."
Latinismen und Gräzismen verleihen zweifelhaften Begriffen Substanz. Agoraphobie (agora = Versammlung oder Marktplatz), die Angst, auf der Strasse zu gehen; Klaustrophobie (claustrum = geschlossener Raum), die Angst, eingeschlossen zu werden; Thanataphobie (thanatos = Tod) die Angst vor dem Sterben. Griechisch-Kenntnisse sind bei der Beschreibung neuer Erkrankungen besonders wertvoll: Silurophobie, die Angst vor Katzen; Kynophobie (häufig bei Briefträgern), die Angst vor Hunden; Arachnophobie, die Angst vor Spinnen; Iatrophobie (durchaus verständlich), die Angst vor Ärzten; Ergophobie, die Angst vor der Arbeit; oder Phobophobie, die Angst vor der Angst.
Es liegt uns fern zu behaupten, dass Menschen, die überängstlich sind oder in gewissen Situationen unruhig werden, kein echtes Problem hätten; auf der anderen Seite muss ein solches Problem noch lange keine "Krankheit" sein."
Einschub vom Blogger: Grade vor ein paar Tagen berichtete ein seriöses TV-Politmagazin, dass die Deutsche Telekom damals beim Übergang vom Staatsbetrieb zur Aktiengesellschaft massenhaft Beamte loswerden musste und darum viele zwischen 30 und Mitte 40 Jahren, medizinisch auch gegen ihren Willen begutachtet und mit ärztlichen Diagnosen wie zB "Grübelzwang" in Frührente geschickt wurden. Geh' mir los mit Ärzten.
Ein letzter Abschnitt aus dem o.g. Buch:
"Im British Medical Journal erscheint seit längerem eine Kolumne, in der eine Art Lebensberatung aus zweiter Hand betrieben wird. Dort geben Experten Ratschläge bei schwierigen Problemen, mit denen Ärzte konfrontiert werden, wobei man bisweilen den Eindruck hat, dass es sich eigentlich um die eigenen Probleme der Ärzte handelt, die aber Patienten zugeschrieben werden.
Eine Frau, 29 Jahre alt, hat sich schon immer vor Krankenhäusern, Ärzten und Krankenschwestern gefürchtet. Sie fürchtet nicht die Schmerzen, Unbequemlichkeiten oder diagnostischen Masznahmen usw., sondern die Macht, die Ärzte und Krankenschwestern über sie ausüben. Sie ist sich sehr wohl im klaren darüber, dass ihre Angst übertrieben ist, kann sie aber nicht überwinden. Welche Behandlung würden Sie vorschlagen?
Der Experte bietet folgenden Trost an: "Die Phobie dieser Frau sollte am besten durch eine direkte Konfrontation mit der Situation behandelt werden ... es wäre bei dieser Patientin vielleicht das beste, zumindest anfänglich wöchentliche therapeutische Sitzungen durchzuführen...."
Angst vor Ärzten und trotzdem gesund? Aber nein! Die Iatrophobie erfordert eine professionelle Behandlung."