Strafe muss sein.
Aber warum bestrafen wir eigentlich Menschen, die gegen das Gesetz verstossen? Die älteste Wurzel unseres Rechtsverständnisses ist ebenso schlicht wie brachial. Es ist der Drang nach Rache und Vergeltung. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Nur ein langer und windungsreicher Prozess der Zivilisation hat uns schliesslich zu der Einsicht geführt, dass die Befriedigung dieses Bedürfnisses nicht in der Hand des Einzelnen oder bestimmter Gruppen liegen darf. Vergeltung gegenüber einem Täter zu üben, muss Sache der Gemeinschaft, der Gesellschaft, des Staates sein. Und wer immer Strafen verhängt, sollte dabei verbindlichen und allgemein bekannten Regeln folgen. Keine Strafe ohne Gesetz.
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Bis heute sind viele Bürger zumindest insgeheim der Auffassung, ein Straftäter solle selbst erleiden, was er anderen angetan hat.
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Das Verlangen nach Strafe ist so gesehen nur eine Umkehrung der goldenen Regel: "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu."
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In Wahrheit aber haben wir den Wunsch nach Rache seit der Aufklärung nur in vornehmere Begriffe gekleidet. Unsere Strafrechtsordnung geht nach wie vor von einem Anspruch sowohl des einzelnen Opfers als auch der gesamten Gesellschaft auf Vergeltung und Sühne für jede begangene Straftat aus. Der Grundgedanke aller sogenannten "absoluten Straftheorien" ist folgender: Jede Straftat, jedes Verbrechen stört die Rechtsordnung, ja eigentlich sogar die sittliche oder - den entsprechenden Glauben vorausgesetzt - die göttliche Ordnung. Und diese Störung lässt sich nur durch einen gerechten Schuldausgleich, eben eine angemessene Strafe beseitigen. Positiv formuliert: Nur die Strafe vermag den Rechtsfrieden wiederherzustellen.
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Der Schuldausgleich, altmodischer gesagt: die Sühne, ist in sich selbst gerechtfertigt.
Doch der moderne, aufgeklärte Mensch neigt zu einem gewissen Relativismus in moralischen Fragen. Ethischer Rigorismus kommt uns seltsam fremd und gestrig vor. Wohler fühlen wir uns deshalb, wenn die Verhängung von Strafen auch einen praktischen, möglichst sogar einen statistisch nachweisbaren Nutzen hat: wenn sie die Zahl der Straftaten verringert oder aus Straftätern gesetzestreue Bürger macht. Was in der Theorie gut klingt, funktioniert aber in der Praxis so gut wie überhaupt nicht. Weshalb denn auch der absolute Sühneanspruch am Ende die einzig tragfähige Begründung für jede Strafe bleibt.
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Welche Untersuchung man auch immer heranzieht, man wird stets zum gleichen Fazit kommen: Um die abschreckende Wirkung der Strafe ist es schlecht bestellt.
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Abrschreckung funktioniert nicht. Weder Art noch Härte von Strafen zeitigen einen nachweisbaren Effekt - und zwar weder im Hinblick auf die Rückfallquote einzelner Täter noch im Hinblick auf die Häufigkeit von Straftaten insgesamt. Wer nicht klaut, unterlässt es offenbar nicht deshalb, weil es verboten ist. Sondern weil er einsieht, dass eine Welt, in der jeder klaut, also andere auch ihn bestehlen, nicht funktionieren kann.
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Indem Vergehen und Verbrechen mit Strafe bewehrt sind und die Strafandrohung verlässlich durchgesetzt wird, stärkt der Staat ganz allgemein das Vertrauen in die Durchsetzungskraft seiner Rechtsordnung. Ist dagegen die Einsicht der Allgemeinheit in den Sinn einer Rechtsnorm unterminiert, fällt es dem Staat zunehmend schwer, sie durchzusetzen. Härtere Strafen nützen dann nur noch begrenzt.
In diesem Konzept gilt die Straftat nicht so sehr als sittlich-moralische, sondern vor allem als soziale Störung. Indem der Staat solche Störungen beseitigt, stärkt er die Rechtstreue der Allgemeinheit. Das funktioniert natürlich nur dann, wenn die Institutionen, die das Recht schützen, also Polizei und Justiz, beim Bürger weitgehend uneingeschränktes Vertrauen geniessen. Um das zu erreichen, muss ihre Arbeit zugleich transparent und effektiv, unabhängig von Einzelinteressen und frei von Missbrauch und Willkür sein. Im Hinblick auf das unerlässliche Vertrauen in die Rechtsordnung als Ganzes ist deshalb Justizunrecht die wohl zerstörerischste Form des Unrechts überhaupt.
Meint der Strafverteidiger Rolf Bossi in seinem Buch "Halbgötter in Schwarz".
Kurzgefasst: Abschreckung kann man in jeder Hinsicht eigentlich vergessen, Resozialisierung auch. Was allein zählt ist die rechtstaatliche Form der Rache, Vergeltung, Sühne, auf die jedes Opfer eines Verbrechens und die Gesellschaft ein natürliches Recht hat. Dieses natürliche Recht geht modernerweise im Zuge des staatlichen Gewaltmonopols auf den Staat über. Im Gegenzug ist dem Staat daraus aber auch eine Pflicht erwachsen, zur Strafverfolgung von Verbreche(r)n. Die Bestrafung des Täters dient also immer noch oder letztlich wieder überwiegend der Genugtuung des Opfers und der Gesellschaft. Jedoch über die Wirkung von strafverfolgten und bestraften Verbreche(r)n kann eine Sicherheit erwachsen, durch gerechtfertigtes Vertrauen in ein funktionierendes Regelsystem, also wenn Vergehen und Verbrechen tatsächlich und wirksam verfolgt und geahndet werden. Eine befriedende Wirkung des Rechtstaates funktioniert also nicht durch spezial- oder generalpräventive Abschreckung, sondern über gerechtfertigtes Vertrauen.
Zur Frage der Verbindlichkeit des sog. positives Rechts zitiert Bossi den Rechtsgelehrten Gustav Radbruch (Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht): "Wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur 'unrichtiges Recht', vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur." Ich stimme dem zu und beziehe das ausdrücklich auch auf das sog. Richterrecht, also das was Richter als Recht sprechen oder - genauso wichtig - unterlassen zu "sprechen".