Ganz privat
Die Integrität des Menschen beginnt nicht mit der Anerkennung seiner Selbständigkeit oder seines Gewissens. Sie hat ihren Kern auch nicht in seiner Würde oder Ehre, sondern in seiner Unberührbarkeit. Vor der Unverletzlichkeit der Person rangiert die Unantastbarkeit ihrer Haut. Darin liegt das Nervenzentrum alles Privaten.
Die Haut ist eine lebendige Grenze. Sie markiert den Unterschied zwischen Ich und Welt.
Die unerbetene Berührung ist ein Akt handgreiflicher Bemächtigung. Nicht umsonst unterliegt das Berühren in allen Kulturen strikten Konventionen. Manche Übergriffe kommen regelrechten Verunreinigungen gleich. Eine freie Zivilisation garantiert den Menschen, dass sie nicht ergriffen oder beschmutzt werden.
Quelle: Wolfgang Sofsky - Verteidigung des Privaten
Vielmehr als unerbetene Berührungen sind chirurgische Übergriffe folglich schwere Verbrechen gegen die Person und gegen die Menschlichkeit.
Einst galt eine Herrschaft als totalitär, wenn sie alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens besetzt hielt. Die moderne Biomacht begnügt sich nicht mit der Eroberung der sozialen Verhältnisse. Sie erfasst die Menschen als organische Lebewesen. Schon vor dem ersten Atemzug bemächtigt sie sich der Körper, vergibt und verweigert Lebensrechte. Dieser sanfte und gesetzestreue Totalitarismus zerstört die private Existenz in ihrem physischen Zentrum, in der Unantastbarkeit des Körpers und der menschlichen Natur.
Das Recht soll fehlende Tugend ausgleichen. Es soll Regelverstösse mit Strafen belegen, welche dem Übeltäter teurer zu stehen kommen als die Vorteile, die er aus seinem Delikt ziehen kann.
Wer zu seinem Besitz durch Betrug, Diebstahl oder Versklavung gekommen ist, wer andere Menschen ihrer Erzeugnisse beraubte, sie nicht nach ihrem Willen leben liess oder sie gewaltsam am Wettbewerb um Tauschgeschäfte hinderte, dessen Besitz ist auch gegenwärtig nicht gerechtfertigt. Vergangene Untaten rechtfertigen keinen aktuellen Besitz. Sie bedürfen vielmehr der Korrektur.
Nach: Wolfgang Sofsky - Verteidigung des Privaten