Bürgergesellschaft oder Staatsgesellschaft
Lord Dahrendorf im Interview mit der Frankfurter Rundschau am 14.10.2004:
Die europäischen Gesellschaften bewegen sich zwischen zwei Polen: der Bürgergesellschaft auf der einen und der Staatsgesellschaft auf der anderen Seite. Charakteristisch für Staatsgesellschaften ist, dass die Bürger ihren Raum mühsam dem Staat abringen müssen, weil der Staat immer schon da war. Dies zeigt sich besonders deutlich in Frankreich, ist aber auch in Deutschland zu spüren. Bei Bürgergesellschaften verlief der Prozess umgekehrt. Hier ist der Staat nachträglich gekommen und hat nie ganz Fuss gefasst, wie etwa in England und Italien. In diesen Ländern sind die Eigeninitiative der Bürger, Unternehmen, Organisationen, Vereine und Verbände die eigentliche Grundlage des sozialen und wirtschaftlichen Lebens. Es ist hier für den Staat immer mühsam gewesen, sich zu behaupten.
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[Einschub: Bekanntlich gehört zu den Repressionsmitteln in Nicht-Demokratien neben der Inhaftierung von System-Kritikern auch deren Psychiatrisierung und Zwangs-behandlung und -einweisung. Vielleicht darum wurde in Italien 1978 die Auflösung aller psychiatrischer Kliniken gesetzlich verfügt. Gut, dafür muss man dann mit Phänomenen wie ein Berlusconi als zeitweiliger Staatschef leben, aber das erscheint doch als das kleinere Übel.
Und vielleicht ist es auch bezeichnend, dass beispielsweise der Staatssender ARTE eine staatstragende Kollaboration der Staatsgesellschaften Deutschland und Frankreich ist. Ende Einschub]
Weiter im Dahrendorf-Interview: Die Fragen, die sich dieser Entwicklung anschliessen, lauten deshalb: Wir können wir mit Hilfe eines Systems von "checks und balances" die Machtausübenden kontrollieren und sicherstellen, dass sie ihre Macht nicht missbrauchen? Und wie kann das Volk, wie können alle Bürger an der Ausübung der Macht teilhaben?
Wir leben in Gesellschaften, die man immer öfter als "Demokratien ohne Demokraten" bezeichnen könnte, das heisst als Gesellschaften, in denen die Bürger ihren Pflichten als Bürger nicht nachkommen. Es ist aber eine bürgerliche Pflicht, sich einzumischen. Eine aus Demokraten bestehende Demokratie macht denen, die an der Macht sind, das Leben schwer, schon allein dadurch, dass man unablässig und unerbittlich Fragen stellt, Kritik übt und Druck erzeugt. Wir müssen alles dafür tun, dem Verfall der demokratischen Kultur entgegenzuwirken. Das können wir tun, indem wir den Mund aufmachen und uns äussern im Bewusstsein des Privilegs, in einer Demokratie zu leben. Wir brauchen wachsame Bürger, die auf der Hut sind und sich Gehör verschaffen, wenn sich eine Krise der Demokratie abzeichnet.
Die Wahlmöglichkeit zwischen politischer Pest oder Cholerea hier zu Lande kann ich nicht als Demokratie erkennen. Politiker sind Marionetten des "Sicherheits-Apparates" und der Wirtschaft, die letztlich bestimmen, welche Leute wir dann nach Oben wählen dürfen.