Freitag, Dezember 26, 2003

Sloterdijk im Interview mit der Ärztezeitung

Sloterdijk im Interview mit der Ärztezeitung

Die Gesundheitsfalle - Über die Herrschaft der Ärzte.
Für mich sind Macht und Kraft Grundbegriffe. Real sein bedeutet für mich auch "herrschen". ()...()

Die Medizin weist einen sehr hohen Organisationsgrad auf hinsichtlich des Wissens, das Wissen ist weltweit vernetzt und verfügbar. Auch die, die Medizin ausüben, die Ärzte weisen einen hohen Organisationsgrad auf, mehr als die meisten übrigen Berufszweige. Ärzte sind sich wie kaum eine andere Gruppe in der Gesellschaft ihrer Macht bewußt. Und sie wollen sie auch.

Ärzte Zeitung: Worauf ist denn Ihrer Meinung nach dieses ausgeprägte Selbst- und Machtbewußtsein der Ärzte zurückzuführen?

Sloterdijk: Ich möchte dies an einem Unterschied zu einer anderen Berufsgruppe, den Politikern, deutlich machen. Politiker können es nie zu mehr bringen als zu einem sehr geübten Dilettantismus. Politik ist meines Erachtens nicht wirklich expertisefähig, sondern bleibt immer eine Art höherer Essay. Ärzte sind sich ihres Könnens sicher, mehr als andere Berufsgruppen. Beide Berufe, der des Politikers und der des Arztes, navigieren im Wahrscheinlichen, es sind keine exakten Wissenschaften, es sind Künste, die auf einer probabilistischen Rationalität operieren, aber die Ausgangsdaten in der Medizin sind schärfer als in der Politik.

Ärzte Zeitung: Und worin besteht die Herrschaft der Ärzte?

Sloterdijk: Medikokratie ist im wesentlichen Definitionsmacht, Definitionsmacht über die Gemüter, über das Vorliegen oder Nicht-Vorliegen von Krankheiten. Ärzte haben die Macht des Befundes. Sie können ein Publikum in Klienten umwandeln. Man könnte Medizin heute mit einer riesigen PR-Agentur vergleichen, die nicht Reklame macht für Waren, sondern für Krankheiten.

Früher stand der Mensch in seiner Zerbrechlichkeit und seiner Endlichkeit vorwiegend zwei Betreuungsinstanzen gegenüber: der ärztlichen Zunft und der priesterlichen. Die Ärzteschaft hat das Priestertum weitgehend resorbiert. Das kann man heute an solch rührenden Institutionen sehen wie dem Krankenhaus-Geistlichen, der die Patienten am Wochenende mit seiner Visite beglückt, aber vorher fragen muß, ob sein Besuch genehm sei.

Dass Ärzte die Macht wollen sagte auch Ernst Klee: "Nicht die Nazis haben die Ärzte gebraucht, sondern die Ärzte haben die Nazis gebraucht."
Tatsächlich sind die deutschen Ärzte, neben den Juristen, so schnell und so umfassend wie keine andere Berufsgruppe Mitglied in der Nazi-Partei NSDAP geworden: über 50% der deutschen Ärzteschaft waren damals dort Mitglied. Eine tödlich extrem machtbewusste Berufsgruppe. Das spürt man auch heute noch oder wieder.

Das ganze Interview: http://www.aerztezeitung.de/docs/2003/09/19/168a1501.asp?nproductid=3000&narticleid=277369